Herbst 2017 / Frühjahr 2018
Vorträge zur europäischen Kulturgeschichte
Träume vom Glück
Dass das Leben schön sei, ist eine beliebte, aber gewagte Behauptung. Das Leben ist keineswegs nur schön. Freud und Leid sind höchst ungerecht verteilt, und dazwischen breitet sich ein eintöniger, oft strapaziöser Alltag aus, ohne dass sich ein Sinn dahinter erkennen ließe.
Kein Wunder, dass die Menschen gern ins Reich der Phantasie fliehen. Dort werden ihnen ihre Wünsche erfüllt, vor allem natürlich die nach dem ganz persönlichen Glück. Dass es einer ganzen Gesellschaft und damit auch jedem Einzelnen eines Tages gutgehe, erscheint in manchen Köpfen kein unerfüllbarer Traum. Politische Ideologien versprechen nach dem großen gesellschaftlichen Umsturz Gerechtigkeit und Wohlstand für alle. Philosophen und Dichter malen Friedensreiche aus. Einige meinen, an einem fernen Punkte der Welt sei das Ideal schon verwirklicht - eine Insel im Meer des Leidens, wie Platons Atlantis oder die Inseln der Seligen der Chinesen. Religionen vertrösten ihre Anhänger auf die Zeit nach dem Tod im ewigen Glück des Paradieses. Natürlich gibt es auch die Gegenwelten, die Höllen, die apokalyptischen Szenen der Herrschaft des Bösen. In diesen Bildern schaffen sich die Ängste ihre erschütternde Welt.
So träumen die Menschen, also wir, seit Jahrtausenden Träume, nachts die aus dem Unbewussten, die unbeeinflussbaren, tags die bewussten unserer heimlichen Wünsche. An den Wünschen hat sich im Laufe der Zeiten nichts grundsätzlich geändert. Nur ihre Befriedigung sieht heute anders aus. Hat man sich im Mittelalter einen Dukatenesel ersehnt, hofft man heute auf einen Lottogewinn; statt der guten Fee hilft Spider- oder Superman aus akuten Nöten. Geborgen fühlten die Menschen sich früher in Gottes Hand. Diese beruhigende Gewissheit ist heute vielen abhanden gekommen. Umso tiefer die Ängste, umso drückender die Einsamkeit in einer gleichgültigen Welt.
Das Leben in der Phantasie ist keine verlorene Zeit. Unsere Träume wiegen uns für kurze Zeit im Gefühl, glücklich zu sein, sicher und geborgen. Sie versetzen uns in eine bessere Welt und sind eine Quelle der Kraft, damit wir das Leben ertragen können, wenn es mal wieder nicht so schön ist.